Universitätsmusikdirektor der Goethe-Universität an Eichstätter Studie beteiligt: Chöre klagen über Austritte, Nachwuchssorgen und Geldnot
Schrumpfende Mitgliederzahlen, finanzielle Sorgen, Nachwuchsprobleme: Die Chorlandschaft im deutschsprachigen Raum hat erheblich unter der Coronakrise zu leiden. Dies zeigt eine Studie, an der auch Jan Schumacher, Universitätsmusikdirektor der Goethe-Universität, beteiligt war.
FRANKFURT/EICHSTÄTT. Bereits
nach einem Jahr Pandemie hat die Chorlandschaft im deutschsprachigen Raum
offenbar erheblichen Schaden genommen. Die Chöre klagen über rückläufige
Mitgliederzahlen, finanzielle Sorgen und Nachwuchsprobleme – und befürchten,
dass der Mitgliederschwund sich auch nach der Krise fortsetzen wird. Zu diesem
Ergebnis kommt eine Studie unter Leitung von Prof. Dr. Kathrin Schlemmer
(Professur für Musikwissenschaft an der Katholischen Universität
Eichstätt-Ingolstadt), an der sich binnen kurzer Zeit mehr als 4300 Chöre in
Deutschland, Österreich und der Schweiz beteiligt haben. Ko-Autoren der
Erhebung sind Tobias Brommann (Domkantor am Berliner Dom), Prof. Jan Schumacher
(Universitätsmusikdirektor, Goethe-Universität Frankfurt/Main) sowie Ester
Petri und Dr. Johannes Graulich, die den im Bereich Chormusik führenden
Stuttgarter Carus-Verlag leiten. Prof. Jan Schumacher,
Universitätsmusikdirektor an der Goethe-Universität, gilt als profunder Kenner
der deutschen und internationalen Chorszene und ist unter anderem Vorsitzender
des Beirats Chor im Deutschen Musikrat. Er wurde daher insbesondere zu
künstlerischen Fragen bei der Erstellung und Auswertung der Umfrage als
Ko-Autor konsultiert. Erste Ergebnisse der Online-Befragung von Chören hat das
Projektteam nun in der aktuellen Ausgabe der „neuen musikzeitung“ (nmz)
veröffentlicht.
Mit mehr als vier Millionen aktiven Sängerinnen und Sängern allein
in Deutschland gehört Chormusik zu den wesentlichen Säulen des
Laienmusizierens. Die Studie „Chormusik in Coronazeiten“ (ChoCo) dokumentiert
erstmals die kritische Lage in diesem Bereich bezogen auf alle wesentlichen
Aspekte von Chorarbeit. „Die Zahl der aktiven Sängerinnen und Sänger bei den
befragten Chören ist während der Pandemie deutlich rückläufig. Nur weniger als
ein Drittel konnte die Mitgliederzahl beibehalten. Besonders ausgeprägt ist der
Verlust bei den mehr als 580 befragten Nachwuchschören. Von diesen existiert de
facto fast jeder achte Kinder- und Jugendchor nicht mehr“, berichtet
Professorin Schlemmer.
Fast 60 Prozent aller befragten Ensembles erwarten, dass sie auch
in der Zeit nach der Pandemie nicht mehr in früherer Besetzungsstärke
weiterarbeiten werden. 15 Prozent fürchten sogar einen deutlichen Rückgang des
Interesses von Sängerinnen und Sängern durch die lange Zwangspause. Trotz
zahlreicher kreativer Ansätze für die coronakonforme Chorarbeit – etwa durch
digitale Proben, Singen im Freien oder in größeren Räumen – werde nur ein
kleiner Teil der Ensembles erreicht. Gleichzeitig seien die Proben mit einem enormen
Mehraufwand für die Verantwortlichen verbunden. Die Auswertung der Fragebogen
ergab auch, dass mit reduzierter Mitgliederzahl und stark reduzierten Proben-
und Auftrittsmöglichkeiten die Qualität des Ensembles spürbar nachlasse. Die
Frage nach der aktuellen musikalischen Verfassung werde für mehr als die Hälfte
der Chöre im negativen Bereich beantwortet, ebenso die Frage nach der aktuellen
mentalen Verfassung. Weniger besorgniserregend fielen die Antworten aus, was
den Zusammenhalt innerhalb der Chöre betrifft: Die Hälfte der Chöre sehe diesen
noch im positiven Bereich. Besondere Sorge bereitet dem Projektteam allerdings,
dass der Zusammenhalt vor allem bei den Nachwuchschören stark gelitten habe.
Diese unterliegen durch Schule oder Ausbildung ohnehin schon einer größeren
Fluktuation als Chöre mit erwachsenen Mitgliedern. In Kinder- und Jugendchören
muss folglich ständig Nachwuchs gefunden werden. Sie sind gegenüber
Unterbrechungen besonders anfällig. Die finanzielle Situation beurteilt jeder
dritte befragte Chor als eher oder sogar sehr unsicher, da gängige Einnahmen
wie Erlöse aus Konzerten fehlen. Weitere gut 20 Prozent der Chöre erwarten
finanzielle Probleme in diesem oder im nächsten Jahr. In der Konsequenz können
viele Chöre beispielsweise ihre oft freiberuflichen Leiterinnen und Leiter
nicht mehr (voll) finanzieren.
Die ChoCo-Studie soll nicht nur die aktuelle Lage deutlich machen,
sondern auch auf Förderbedarfe hinweisen, um weiteren Schaden abzuwenden: „Die
teilnehmenden Chöre wünschen Hilfe bei der Finanzierung von Schnelltests,
gefolgt von der Unterstützung bei den Honoraren für die Dirigentinnen und
Dirigenten, Zuschüsse für Notenmaterial sowie eine Ausfallversicherung bei
Konzerten in der aktuell unsicheren Pandemielage, um den Chorbetrieb sicher
wieder aufnehmen zu können.“
Aus Sicht des Projektteams sind die Ergebnisse umso
beunruhigender, da sie noch vor der dritten Welle im März ermittelt wurden. Zu
diesem Zeitpunkt rechneten viele Chöre noch damit, bald wieder proben zu
können. Mangels Öffnungsperspektive habe sich die Situation für die Chöre
weiter verschlechtert: „Von vielen anderen Bereichen des öffentlichen Lebens
wird sich die Erholung bei den Chören unterscheiden, eine baldige
Wiederherstellung des normalen Chorlebens ist zeitnah nicht zu erwarten.“
Über die nun veröffentlichten ersten Ergebnisse hinaus will das
Autorenteam die Erhebung noch detaillierter auswerten – etwa im Hinblick auf
regionale Unterschiede oder die Art der Chöre. Zudem hatten die Befragten neben
einem standardisierten Fragebogen auch Gelegenheit, die Situation mit eigenen
Worten zu schildern. Diese qualitativen Daten werden nun noch weiter
untersucht.
Publikation: Ein ausführlicher Beitrag zur ChoCo-Studie ist in der „Neuen
Musikzeitung“ (nmz) erschienen und unter www.nmz.de/choco
abrufbar.
Weitere Informationen
Prof.
Dr. Kathrin Schlemmer
Professur
für Musikwissenschaft an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt
kathrin.schlemmer@ku.de
Prof.
Jan Schumacher
Universitätsmusikdirektor
Institut
für Musikwissenschaften der Goethe-Universität
J.Schumacher@em.uni-frankfurt.de
Redaktion: Dr. Anke Sauter, Referentin für
Wissenschaftskommunikation, Abteilung PR & Kommunikation, Telefon 069 798-13066, Fax 069 798-763-12531, sauter@pvw.uni-frankfurt.de